Geburtshilfe neu denken
Das Bundesforschungsministerium fördert das Projekt ,MAM-Care', das im Mai 2022 startete, für zwei weitere Jahre. Mit dem Projekt soll das Geburtserleben von Müttern verbessert werden.
Die BMBF-geförderte Nachwuchsgruppe in der Versorgungsforschung am UKB: (v.l.) Lissa Haid-Schmallenberg, Arno Stöcker, Prof. Nadine Scholten, Niklas Sand, Anna Volkert und Mi-Ran Okumu (nicht im Bild). ©Universitätsklinikum Bonn (UKB)/Alessandro Winkler
Wie erlebt eine Mutter die Geburt ihres Kindes – eingebettet im heutigen Klinikalltag? Wie sehen auf der anderen Seite die Geburtshelfenden ihre Arbeit während der Geburt? Solchen Fragen ergründet das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF; inzwischen Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt, BMFTR) geförderte Forschungsprojekt ,MAM-Care‘ der Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Bonn (UKB) in Kooperation mit der Universität Bonn und der Uniklinik Köln bereits seit Mai 2022. Jetzt wird die zweite Projektphase mit circa 730.000 Euro für weitere zwei Jahre gefördert. Ziel ist es, für eine Geburtshilfe, die medizinische Qualität mit Menschlichkeit verbindet, eine konkrete Intervention zu testen und zu evaluieren.
Im Rahmen von MAM-Care nimmt die Bonner Nachwuchsgruppe in der Versorgungsforschung die Qualität der geburtshilflichen Versorgung in Deutschland aus der Sicht der Gebärenden und der Versorgenden unter die Lupe. Unter der Leitung von Prof. Dr. Nadine Scholten verfolgt es eine multiperspektivische Herangehensweise: Die Ergebnisse aus medizinischen Versorgungsdaten – etwa Kaiserschnittraten oder geburtshilfliche Interventionen – werden mit Befragungsdaten und qualitativen Interviews kombiniert analysiert. Mütter erzählen, wie sie Geburt und Betreuung empfunden haben, während ärztliche Geburtshelfer ihre Herausforderungen im Klinikalltag schildern. Insgesamt 1.102 Mütter, 875 ärztliche Fachpersonen und 1.373 Hebammen haben an der Befragung teilgenommen.
„In den ersten drei Projektjahren konnten wir bereits viel Wissen generieren und dabei aufzeigen, was in der Geburtshilfe in Deutschland bereits gut läuft, wo aber auch noch Möglichkeiten zur Optimierung wären“, so Scholten, die neuerdings die Forschungsstelle für Gesundheitskommunikation und Versorgungsforschung des UKB leitet und die Professur für psychosomatische und psychoonkologische Versorgungsforschung an der Universität Bonn innehat.
Einen möglichen Optimierungsansatz sehen die Bonner Forschenden beispielsweise hier: Trotz fehlender Evidenz wird unter einer vaginalen Geburt relativ häufig Druck von außen auf den Bauch ausgeübt, obwohl dieser sogenannte Fundusdruck laut Leitlinie möglichst nicht angewandt werden soll. Von Frauen wird diese Praxis immer wieder als traumatisch beschrieben. Auffallend sei, dass Assistenzärzte den Fundusdruck signifikant häufiger als Fachärzte verwenden würden, so Scholten. Zur Minimierung dieser Praxis müsste man an der Ausbildung oder an den Strukturen ansetzen. Denn laut den Interviews sei der Fundusdruck, anders als der Einsatz von Saugglocke oder Geburtszange, eine Intervention, die selbstständig von Assistenzärzten ausgeführt werde, so die Wissenschaftlerin.
Auch der Nutzen eines Dammschnitts wird immer mehr infrage gestellt, da die ursprüngliche Intention, hochgradige Dammrisse zu verhindern, nicht evidenzbasiert belegt werden kann. Im Durchschnitt schneiden ärztliche Personen bei fast jeder siebten von ihnen betreuten vaginalen Geburt. Etwas mehr als jede zweite Mutter, bei der ein Dammschnitt durchgeführt wurde, gab an, keine ausreichende Aufklärung erhalten zu haben, jede Vierte war mit dem Dammschnitt nicht einverstanden.
Selbstbestimmung im Kreißsaal nicht immer gegeben
Zudem konnten die Bonner Forschenden im Rahmen von MAM-Care zeigen, dass die Zufriedenheit der Gebärenden unter anderem mit der selbstbestimmten Wahl der finalen Geburtsposition zusammenhängt. Gleichzeitig gaben fast 40 Prozent der Befragten, die ihr Kind in Rückenlage geboren haben, an, dass sie diese Position nicht freiwillig gewählt haben. „Hier möchten wir jetzt in der zweiten Projektphase ansetzen, indem wir durch kleine Nudges versuchen die Frauen zu befähigen selbstbestimmter zu agieren“, sagt Scholten. Das Konzept der Nudges meint das Setzen von subtilen Anreizen oder Veränderungen in der Umgebung, die das Verhalten von Patienten oder medizinischem Personal beeinflussen, ohne dabei die Entscheidungsfreiheit einzuschränken. Prof. Scholten betont: „Somit geht es uns nicht um große Veränderungen in der Versorgung, sondern um kleine Maßnahmen, die niederschwellig implementiert und eingesetzt werden können.“